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Gewaltambulanz hilft bei der Beweissicherung

Wer Opfer einer Gewalttat wird, steht zunächst unter Schock. Es fällt schwer, einen klaren Gedanken zu fassen: Was ist jetzt zu tun? Gehe ich zur Polizei? Wer kann mir helfen? In einigen deutschen Städten gibt es so genannte „Gewaltambulanzen“. Sie unterstützen Gewaltopfer dabei, die erlittenen Verletzungen für spätere Gerichtsverfahren festzuhalten und Spuren zu sichern.

Verletzungen dokumentieren, Spuren sichern

Verletzungen müssen beweissicher dokumentiert werden, um vor Gericht Bestand zu haben  

© Markus Bormann, fotolia 

 

Wer Opfer einer Gewalttat wird, steht zunächst unter Schock. Es fällt schwer, einen klaren Gedanken zu fassen: Was ist jetzt zu tun? Gehe ich zur Polizei? Wer kann mir helfen? In einigen deutschen Städten gibt es so genannte „Gewaltambulanzen“. Sie unterstützen Gewaltopfer dabei, die erlittenen Verletzungen für spätere Gerichtsverfahren festzuhalten und Spuren zu sichern. 

An der Uniklinik in Heidelberg gibt es seit November 2012 eine solche Gewaltambulanz. Opfer von Gewalttaten, aber auch Unfallopfer, können sich hier melden – auch ohne Anzeige bei der Polizei zu erstatten. Die Ambulanz steht dabei allen Menschen offen, unabhängig von deren Geschlecht, Alter, Herkunft oder finanzieller Situation. Die untersuchenden Rechtsmediziner unterliegen der Schweigepflicht. „Wir geben Opfern von Gewalt die Möglichkeit, sich kostenfrei untersuchen zu lassen, vorhandene Spuren zu sichern und Verletzungen gerichtsfest zu dokumentieren. Auch wenn sie aktuell noch keine Anzeige bei der Polizei erstatten möchten, wird alles beweissicher festgehalten und steht dann für eventuelle spätere Verfahren zur Verfügung“, erklärt die Leiterin der Gewaltambulanz Prof. Dr. Kathrin Yen. Gerade bei häuslicher Gewalt oder Kindesmissbrauch würden viele Opfer oder deren Angehörige von einer sofortigen Anzeige absehen und benötigten etwas Bedenkzeit. Entscheidet man sich zu einem späteren Zeitpunkt doch für eine Anzeige bei der Polizei, fehlen dann aber häufig eindeutige Beweise und es steht Aussage gegen Aussage. Durch die rechtzeitige professionelle Sicherung aller Spuren können Rechtsansprüche später besser geltend gemacht werden. Wichtig ist dabei aber vor allem der Zeitfaktor: „Je schneller sich ein Gewaltopfer meldet, desto besser gelingt es, Spuren zu sichern und alle Verletzungen festzuhalten. Denn manche Verletzungen heilen sehr schnell ab und sind schon nach kurzer Zeit nicht mehr nachweisbar – wie etwa Würgemale oder Verletzungen im Genitalbereich“, erklärt Yen. 

Prof. Dr. med. univ. Kathrin Yen, Leiterin der Gewaltambulanz Heidelberg

© Bernhard Bergmann

Gerichtsfest und beweissicher dokumentieren 

Normale Untersuchungen beim Arzt und der im Anschluss verfasste Bericht reichen meist vor Gericht als Nachweis nicht aus. „Das liegt daran, dass klinische Ärzte in erster Linie die Genesung des Patienten im Blick haben und auf die Therapie konzentriert sind. Wir als Rechtsmediziner schauen in die andere Richtung. Wir fragen: Wie ist eine Verletzung entstanden? Außerdem kommt bei uns noch die Spurensicherung dazu“, so die Expertin.

Die Untersuchungen laufen nach bestimmten Vorgaben und Standards ab. Nach einem Gespräch zum Geschehenen wird zunächst der gesamte Körper des Opfers untersucht. „Wir konzentrieren uns dabei nicht nur auf die offensichtlich betroffenen Bereiche, sondern begutachten die Person von Kopf bis Fuß – so auch die Kopfhaut, die Mundhöhle, den Bereich hinter den Ohren oder das Gesäß“, so Yen. Alle Verletzungen werden nach bestimmten Maßgaben fotografiert. Denn um Fotos später als Beweismaterial nutzen zu können, muss immer jeweils eine Übersichts- und eine Nahaufnahme angefertigt werden. Mindestens eine der Detailaufnahmen muss dabei mit einem Maßstab versehen werden, damit man die genaue Größe der Verletzung erkennen kann. Die häufigsten Verletzungen sind Blutergüsse, die durch stumpfe Gewalteinwirkung wie Schläge oder Tritte entstanden sind oder auch Würgemale am Hals. „Bei sexueller Gewalt kommen oft noch Wunden im Genitalbereich hinzu, aber auch Verletzungen, die durch festes Zupacken oder Festhalten entstanden sind, etwa an den Handgelenken. Bei Opfern von körperlichen Auseinandersetzungen sehen wir auch öfter Stichverletzungen“, erklärt die Rechtsmedizinerin. Neben den Verletzungen werden Körper und Kleidung des Opfers auch auf weitere Spuren untersucht. Das können beispielsweise Haare, Schmutz oder auch Spermaspuren sein. Bei Sexualdelikten werden außerdem verschiedene Abstriche genommen. „Bei uns sind auch DNA-Analysen oder toxikologische Untersuchungen möglich. Letzteres kommt etwa in Frage, wenn jemandem K.O.-Tropfen verabreicht wurden. Aber auch in solch einem Fall ist es enorm wichtig, dass sich die Person schnell mit uns in Verbindung setzt, weil viele Substanzen nur kurze Zeit nachgewiesen werden können“, betont Yen. 

Gewaltambulanzen in Deutschland: 

München: Tel. 089 2180 73011 Heidelberg: Tel. 0152 5464 8393 Düsseldorf: Tel. 0211 81 0 6000 Hannover: Tel. 0511 532 5533 Hamburg: Tel. 040 7410 52127 

Verdächtige entlasten 

In der Regel werden die gesicherten Spuren dann ein Jahr lang im Institut aufbewahrt, Fotos und Berichte werden auf unbestimmte Zeit archiviert. In dieser Zeit kann sich der Betroffene überlegen, Anzeige zu erstatten. Er kann jederzeit auf sein Material zurückgreifen. „Häufig läuft es so ab, dass sich der Anwalt eines Opfers irgendwann bei uns meldet und die Unterlagen anfordert“, erklärt Kathrin Yen. Aber nicht nur Opfer von Gewalt können sich an die Ambulanz wenden. Auch Tatverdächtige können sich dort untersuchen lassen und bei Gericht gegebenenfalls von einem Tatvorwurf freigesprochen werden. „Wir sind keine klassische Opferhilfeeinrichtung, sondern haben eine neutrale Stellung. Es geht darum, Fakten festzuhalten und zu klären, wie sich etwas zugetragen hat. Und eine Untersuchung kann einen Tatverdächtigen eben auch entlasten“, so Kathrin Yen. 

Nicht duschen, nicht umziehen 

Wenn man Opfer einer Gewalttat wird, ist es wichtig, sich möglichst schnell an die Gewaltambulanz oder die Polizei zu wenden, damit Verletzungen festgehalten und vorhandene Spuren gesichert werden können. „Wir sind 24 Stunden erreichbar, ein kurzer Anruf genügt. Auch wenn es den Opfern verständlicherweise schwerfällt: Sie sollten sich nach der Tat keinesfalls waschen oder duschen und nicht die Kleidung wechseln, wenn möglich auch nichts trinken und nicht zur Toilette gehen. Sonst geht wichtiges Beweismaterial verloren“, betont Professor Yen. Die Experten und Expertinnen vor Ort versuchen, den Aufenthalt in der Gewaltambulanz für das Opfer so angenehm wie möglich zu gestalten. Damit dies gelingt, sind vorab einige Informationen nötig, die man am besten vorher telefonisch durchgibt. „Wenn wir vorab wissen, worum es geht, können wir uns besser darauf einstellen und die Person direkt an den richtigen Ort schicken. Ein Vergewaltigungsopfer wird etwa direkt in der Gynäkologie durch Rechtsmediziner und Gynäkologen gemeinsam medizinisch und forensisch untersucht. Man muss die Untersuchung dann nur einmal über sich ergehen lassen – und nicht zweimal.“ Pro Jahr werden in der Gewaltambulanz etwa 250 Untersuchungen durchgeführt – Tendenz steigend. „Wir gehen davon aus, dass wir bald 400 Fälle oder mehr im Jahr bearbeiten werden“, ist sich Kathrin Yen sicher. 

SW (28.03.2014)

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