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Digitale Gewalt – ein Alltagsphänomen

„In meinem Netz soll es keine Gewalt geben!“ ist der Wunsch vieler junger Erwachsener in Deutschland – und deshalb auch der Titel einer aktuellen Studie der Beratungs- und Unterstützungsstelle HateAid. Doch die Realität sieht anders aus: 60 Prozent der befragten jungen Menschen zwischen 18 und 27 Jahren haben bereits sexualisierte Übergriffe im Netz erlebt. Während digitale Gewalt immer weiter zunimmt, fehlt bis heute sowohl eine einheitliche Definition des Begriffs als auch ein Gesetz, mit dem Betroffene vor Gericht einfacher gegen digitale Gewalt vorgehen können.

Wie gehen junge Erwachsene damit um?


Junge Erwachsene wünschen sich ein Netz ohne Gewalt

© SB Arts Media

 

„In meinem Netz soll es keine Gewalt geben!“ ist der Wunsch vieler junger Erwachsener in Deutschland – und deshalb auch der Titel einer aktuellen Studie der Beratungs- und Unterstützungsstelle HateAid. Doch die Realität sieht anders aus: 60 Prozent der befragten jungen Menschen zwischen 18 und 27 Jahren haben bereits sexualisierte Übergriffe im Netz erlebt. Während digitale Gewalt immer weiter zunimmt, fehlt bis heute sowohl eine einheitliche Definition des Begriffs als auch ein Gesetz, mit dem Betroffene vor Gericht einfacher gegen digitale Gewalt vorgehen können.

Was bedeutet „digitale Gewalt“?

Morddrohungen auf Twitter, Hasspostings auf Facebook sowie Accounts, die oft auch anonym gegen Menschen hetzen, sie beschimpfen oder beleidigen sind heutzutage trauriger Alltag in sozialen Netzen. „Digitale Gewalt“ ist ein Sammelbegriff für verschiedene Formen der Herabsetzung, Belästigung, Diskriminierung und Nötigung anderer Menschen mit Hilfe elektronischer Kommunikationsmittel über soziale Netzwerke, in Chaträumen, beim Instant Messaging oder mittels Smartphone. Digitale Gewalt geschieht also überall dort, wo sich Menschen online treffen, austauschen und vernetzen. Sie reicht von Cybermobbing und Hatespeech über Cyberstalking bis zum Cybergrooming: der Kontaktaufnahme zu Kindern im Internet mit dem Ziel, sie sexuell zu missbrauchen (sexualisierte digitale Gewalt). Zu sexualisierter digitaler Gewalt zählt auch „Sexting“: das Ver¬senden von sexuellen Inhalten per Textnachricht. Geschieht das in gegenseitigem Einverständnis und auf Augenhöhe, ist dagegen nichts einzuwenden. Probleme entstehen allerdings, wenn intime Bilder – zum Beispiel Nacktfotos, Dickpics oder Vulvapics – oder intime Nachrichten ohne Zustimmung mit Dritten geteilt werden. Oft geschieht digitale Gewalt eng vernetzt mit Angriffen in der physischen Welt. Eine einheitliche gesetzliche Definition des Begriffs steht jedoch noch aus.

Übersicht der Formen digitaler Gewalt (553 Befragte)

© HateAid

Sexualisierte Übergriffe im Netz nehmen zu

Wie häufig nehmen junge Erwachsene digitale Gewalt wahr oder sind gar selbst betroffen? Welche Formen der Gewalt gibt es? Und wie reagieren die Betroffenen darauf? Die in Zusammenarbeit mit der Universität Klagenfurt durchgeführte Studie „In meinem Netz soll es keine Gewalt geben – Wie junge Erwachsene digitale Gewalt erleben und wie sie damit umgehen“ von HateAid basiert auf einer Online-Befragung von 3.367 Personen, die im Oktober und November 2023 stattfand. Insgesamt nahmen 3.367 Personen an der Studie teil. In der Altersgruppe 14 bis 17 Jahre wurden 501 Personen befragt, bei den 18- bis 27-Jährigen waren es 1.868 Personen. Die Altersgruppe 28 bis 42 Jahre ist mit 498 Befragten und die Altersgruppe ab 43 Jahre mit 500 Befragten vertreten. Die Studie ergab, dass 60 Prozent der befragten jungen Erwachsenen zwischen 18 und 27 Jahren bereits sexualisierte Übergriffe im Netz erlebt oder ungewollt Nacktbilder zugeschickt bekommen haben. Diese Altersgruppe ist besonders häufig von verschiedenen Formen digitaler Gewalt betroffen. Neben den sexualisierten Übergriffen sind Beleidigungen, Hassrede, die Verbreitung von Lügen, Cybermobbing und Bedrohung weit verbreitet. Fast ein Drittel (29,6 Prozent) der 18- bis 27-Jährigen sind bereits selbst von digitaler Gewalt betroffen gewesen. Auch die Zahl derer, die schon einmal Zeuge von digitaler Gewalt geworden sind, ist hoch: 63,1 Prozent der Befragten in der Altersgruppe von 18 bis 27 Jahren haben bereits digitale Gewalt gegen andere wahrgenommen. Besonders betroffen sind junge Frauen, von denen 67,2 Prozent angaben, schon sexualisierte Übergriffe erlebt zu haben. Laut der Studie sind außerdem Menschen mit Migrationsgeschichte überproportional häufig betroffen: Fast 80 Prozent der jungen Erwachsenen konnten eine Zunahme der digitalen Gewalt in den letzten vier Jahren wahrnehmen. Nicht berücksichtigt wird in der Studie die Betrachtung von Opfer-Täter-Zusammenhängen. Verschiedene Untersuchungen in der Vergangenheit haben gezeigt, dass Jugendliche und junge Erwachsene in manchen Fällen von Gewalt Opfer und Täter zugleich sind. Gut möglich ist es also, dass einige Betroffene, die digitale Gewalt erlebt haben, auch selbst schonmal jemanden im Netz beleidigt, bedroht oder herabgewürdigt haben.

Über HateAid

HateAid ist ein gemeinnützige Organisation, die sich für Menschenrechte im digitalen Raum einsetzt, über Gewalt im Netz aufklärt, Betroffene berät und ihnen rechtliche Unterstützung leistet. Die Organisation wurde 2018 als gGmbH von den Nichtregierungsorganisationen Campact und Fearless Democracy ins Leben gerufen.

Wie reagieren junge Erwachsene?

Trotz dieser negativen Erfahrungen ist ein Rückzug aus den sozialen Medien für die meisten jungen Erwachsenen keine Option: Nur knapp ein Fünftel sieht einen radikalen Verzicht auf soziale Medien als praktikable Lösung, um sich vor zunehmender digitaler Gewalt zu schützen. Stattdessen wenden junge Erwachsene verschiedene Mechanismen an, um mit der Gewalt umzugehen. Viele nutzen direkte und niederschwellige Maßnahmen wie das Blockieren von Angreiferinnen und Angreifern, das Melden von Vorfällen oder das Anpassen ihrer Privatsphäre-Einstellungen. Diese Maßnahmen bieten einen sofortigen Schutz vor weiteren Übergriffen und sind zudem weniger zeitintensiv und einfacher durchzuführen als die Kontaktaufnahme zu offiziellen Beratungsstellen. Viele Betroffene zögern auch aus Scham oder Angst, sich einer fremden Person anvertrauen zu müssen, darauf, externe Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ein großer Anteil der jungen Erwachsenen gibt zudem an, dass sie auf digitale Gewaltangriffe überhaupt nicht reagieren. Dies kann zu verstärkten negativen Gefühlen wie Unsicherheit, Angst und Scham führen und langfristig psychische Probleme wie Depressionen oder Angststörungen hervorrufen.

Reaktionen der jungen Erwachsenen (553 Befragte)

© HateAid

Viele Betroffene verstummen

Die Studie zeigt, dass sowohl Betroffene als auch Nicht-Betroffene digitale Gewalt wahrnehmen und Angst haben, selbst Opfer zu werden. Dies führt dazu, dass sie sich aus Diskussionen zurückziehen und ihre Meinung nicht mehr äußern. Die Bereitschaft, sich aus den sozialen Medien zurückzuziehen, variiert zwischen den Altersgruppen. Ältere Menschen ziehen sich häufiger aus dem digitalen Raum zurück, während junge Erwachsene darauf angewiesen sind. Für sie ist das Internet ein wichtiger sozialer Treffpunkt und Raum für Austausch und Wissensgenerierung. Der Effekt des Verstummens wirkt sich daher auf junge Erwachsene besonders gravierend aus. Wenn sie aus Angst vor digitaler Gewalt schweigen, verlieren sie ihre Stimme im öffentlichen Diskurs. Dies kann zu Verzerrungen in der öffentlichen Wahrnehmung und zu einer Schwächung demokratischer Strukturen führen.

Dringender Handlungsbedarf

Junge Erwachsene wünschen sich ein Internet ohne Gewalt, Hass oder Mobbing. Sie fordern effizientere Strafverfolgung, mehr Sanktionierungen und mehr Regulierung der Plattformen durch die Politik. Teils wünschen sie sich radikal neue Konzepte für soziale Netzwerke, wie beispielsweise nicht-kommerzielle Plattformen. Anna-Lena von Hodenberg, Geschäftsführerin von HateAid, betont die Dringlichkeit der Situation: „Für eine ganze Generation gehört digitale Gewalt durch soziale Medien bereits zum Alltag. Wir haben viel zu lange weggeschaut: Wir müssen unsere Kinder und Jugendlichen jetzt besser vor Gewalt im Internet schützen. Dafür braucht es dringend ein Mindestmaß an Produktsicherheit für soziale Medien und konsequenten Jugendschutz auch im Netz.“ Auch Josephine Ballon von HateAid äußerte sich zur Studie und unterstrich die gesellschaftliche Relevanz der Ergebnisse. Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk betont sie, dass digitale Gewalt eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung darstellt, die nicht nur Einzelpersonen betrifft, sondern auch die Demokratie destabilisieren kann. Um digitaler Gewalt effektiver zu begegnen, müssten auch Polizei und Justiz stärker für die zur Anzeige gebrachten Fälle und die Betroffenen sensibilisiert werden. Auch müssten Beratungsstellen bekannter gemacht werden. Denn nur 31 Prozent der von digitaler Gewalt Betroffenen wenden sich an diese, obwohl sie mit 34 Prozent mit Abstand das höchste Vertrauen aller Befragten genießen. Diese Stellen bieten verschiedenste Arten von Unterstützung an, etwa bei der Meldung von Inhalten, der Erstellung von Anzeigen und der Prozesskostenfinanzierung.

Gesetzesentwurf stockt

Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag 2021 ein Gesetz gegen digitale Gewalt angekündigt. Ziel des geplanten Gesetzes sollte sein, dass Betroffene von digitaler Gewalt auf Plattformen und Messengern Täterinnen und Täter leichter identifizieren und dadurch zivilrechtlich gegen sie vorgehen können. Zur Vorbereitung des Gesetzesentwurfs hat das Bundesministerium der Justiz (BMJ) im Jahr 2023 ein Eckpunktepapier erstellt. Ein konkreter Vorschlag für den Normtext wurde seitdem nicht vorgelegt. Ob und wann es tatsächlich zu einem solchen Gesetz kommt, ist also weiterhin offen.

KF (25.10.2024)