Die Zahl der Opfer häuslicher Gewalt in Deutschland ist auch im letzten Jahr wieder gestiegen. Laut der polizeilichen Kriminalstatistik für 2023 waren insgesamt 256.276 Menschen davon betroffen. Das ist ein Anstieg um 6,5 Prozent. Wie in den Jahren zuvor waren 70 Prozent der Opfer Frauen. Im Interview mit PdP.de erläutert die Wissenschaftlerin und Psychologin Dr. Catharina Vogt (DHPol) die Ursachen und Hintergründe von häuslicher Gewalt.
Wie bewerten Sie die aktuelle Entwicklung? Warum hat die häusliche Gewalt in den letzten Jahren zugenommen?
Zunächst einmal sind die Zahlen erschreckend. Wir sehen diesen Anstieg auch, allerdings kennen wir die Gründe dafür nicht und können nur mutmaßen. Es gab eine große Aufmerksamkeit in den Medien, die viele Menschen sensibilisiert hat und vielleicht auch das Anzeigeverhalten verändert hat. Die „MeToo“-Bewegung hat sicherlich auch einiges angestoßen. Doch besonders besorgniserregend ist der deutliche Anstieg bei den Tötungsdelikten, die man nicht mit erhöhter Sensibilisierung erklären kann. Im Jahr 2022 wurde jeden dritten Tag eine Frau getötet beziehungsweise ermordet. Im Jahr darauf war es schon an jedem zweiten Tag. Und dann kommen dazu noch Fälle, bei denen die Taten unvollendet geblieben sind, also bei denen das Opfer überlebt hat. Wenn man diese Fälle dazurechnet, kommt man auf etwas mehr als einen Fall pro Tag. Übrigens sind laut Polizeilicher Kriminalstatistik 20 Prozent der Opfer Männer. Laut einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KfN) ist jeder zweite Mann im Laufe des Lebens von partnerschaftlicher Gewalt betroffen. Nach der Studie ist eine klare Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern in vielen Fällen nicht sinnvoll. Opfer können zu Tätern werden und umgekehrt. Ein Thema, dass wir so vor zwanzig Jahren noch gar nicht auf dem Schirm hatten. Auch das zu partnerschaftlicher Gewalt nicht nur physische Gewalt, sondern auch Macht und Kontrolle gehören können. Auch hier hat es eine Sensibilisierung gegeben.
Was macht Menschen zu Tätern?
Die Gründe dafür sind immer sehr vielschichtig. Wir sehen in konkreten Konfliktsituationen, dass Menschen zu Tätern werden, die schon viele Risikofaktoren mitbringen und dann im konkreten Konflikt keine Alternative zu einer gewaltvollen Lösung sehen. Das heißt, ihre Konfliktkompetenz ist eingeschränkt und höchstwahrscheinlich auch die Impulskontrolle. Diese kann beispielsweise reduziert sein, wenn auch Alkohol oder Drogen konsumiert werden. Dazu kommt eine bestimmte Sozialisation, wenn man etwa in der eigenen Familie oder Umgebung vorgelebt bekommen hat, dass Gewalt eine mögliche Lösung für Konflikte ist, die zu funktionieren scheint. Wenn man das bereits als Kind erlebt hat, prägt das schon sehr. Hier an der Deutschen Hochschule der Polizei (DHPol) untersuchen wir beispielsweise Morde oder Tötungsdelikte nach Trennungen. Dabei haben wir es immer wieder mit Tätern oder Täterinnen zu tun, die keine geradlinige, sondern eine sehr unruhige und unbehütete Kindheit hatten, etwa mit Heimaufenthalten. Bei diesen Fällen sehen wir sehr häufig, dass Macht und Kontrolle wichtige Themen sind. In menschlichen Beziehungen ist Kooperation ja sehr wichtig. Doch wenn Macht und Kontrolle das Ziel sind, weil man die Beziehung als seinen Besitz sieht, funktioniert Kooperation oder Verhandeln nicht. Dazu kommen häufig noch externe Risikofaktoren wie Krankheit, Überschuldung, Schwierigkeiten auf der Arbeit oder gar eine Kündigung. Wenn sich dann die Partnerin oder die Partnerin trennen will, ist dann das letzte bisschen Kontrolle über das eigene Leben weg.
Was sind typische Verhaltensweisen, die auf eine Planung der Tat oder auf eine grundsätzliche Tötungsbereitschaft hinweisen?
Zum einen gibt es die eruptiven Taten, bei denen wir als Forschende nur feststellen können, da hat sich vielleicht etwas angebahnt, doch es war vorher nicht wirklich sichtbar. Besonders gefährlich sind aber anstehende oder vollzogene Trennungen, vor allem wenn es schon vorher Gewalt in der Beziehung gab. Hier müssen die Betroffenen sehr vorsichtig sein, da es sein kann, dass die Situation eskaliert. Dann gibt es noch die suizidalen Fälle. Meist sind es Menschen, die mit ihrer Lebenssituation völlig überfordert sind. Hier kann es sein, dass sie Dritten gegenüber Äußerungen machen oder sich auffällig verhalten, etwa wenn sie anfangen, ihre Habseligkeiten zu verschenken oder zu verkaufen. Eine anstehende Trennung kann dann der auslösende Faktor für eine Selbsttötung oder auch für einen erweiterten Suizid sein, bei dem die Partnerin oder Partner sowie Kinder und andere Angehörige ebenfalls getötet werden. Diese Personen fühlen sich so eingeengt, dass sie die Tötung als einzige Lösung des Konflikts sehen. Auch hier kann es im Vorfeld Andeutungen geben. Wir nennen das „Leaking“. Beispielsweise werden offen Waffen hingelegt. Wir hatten einen Fall, da hat ein Täter einen Hammer vor dem Haus seiner Exfrau vergraben. Nach der Tat hat er behauptet, der Hammer wäre dort gewesen, weil er etwas reparieren wollte. Die Frau hat nur knapp überlebt. Wenn die Täter Andeutungen machen, etwa im Gespräch oder im Chat, sollten Freunde und Verwandte aufmerksam werden, auch aus Selbstschutz heraus. Wenn sich etwa die Frau zum Nachbarn flüchtet oder eine Arbeitskollegin sich in den Konflikt einschaltet, kann es sein, dass diese auch zum Opfer werden. Auch die Polizei ist einem hohen Risiko ausgesetzt, wenn sie eingreift. Ein aggressiver Täter kann dann noch weiter eskalieren. Häufig kommt es zu einem totalen Kontrollverlust und die Aggression bekommt dann die Person ab, die zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort ist.
Dr. Catharina Vogt ist Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster und leitet dort das EU-Projekt IMPROVE.
Privat
Welche Barrieren gibt es, die zwischen Opfern häuslicher Gewalt und ihrem Weg zum Hilfesystem stehen?
Es gibt viele Barrieren, die dazu führen, dass Hilfsangebote nicht genutzt werden. Zunächst einmal gibt es immer noch eine große Unwissenheit über die Möglichkeiten und Angebote. So ist zum Beispiel die Telefonnummer des anonymen und kostenfreien Hilfetelefons „Gewalt gegen Frauen“ (116 016) nicht so bekannt wie sie sein müsste. Dann ist es für die Betroffen auch ein großes Tabu, mit irgendjemanden über die eigenen Gewalterfahrungen zu sprechen. Das gilt auch für Freunde. Die Scham, sich als Opfer zu outen, ist groß und die Betroffenen haben Angst, ihr soziales Netz zu verlieren. Unsicherheit gibt es auch darüber, ab wann ein Frauenhaus aufgesucht werden kann. Müssen deutlich sichtbare körperliche Verletzungen vorliegen oder ist extreme psychologische Gewalt auch ein Aufnahmegrund? Und: Bin ich dort sicher und welche Kosten entstehen? Vor besonderen Herausforderungen stehen Menschen mit Migrationshintergrund. Bei ihnen kommen oft die Sprachbarriere und kulturelle Unterschiede hinzu, weil Frauenhäuser als Institution in den Ursprungsländern nicht bekannt sind. Oder es gibt ein großes Misstrauen gegenüber Institutionen und staatlichen Stellen, die nicht als Möglichkeit der Hilfe und Unterstützung gesehen werden, weil sie das aus ihren Herkunftsländern nicht kennen.
Wo muss Prävention ansetzen?
Eigentlich an ganz vielen Stellen. Zunächst einmal müssen wir die Istanbul-Konvention ordentlich umsetzen (Anm. der Red.: Die Istanbul-Konvention definiert Gewalt gegen Frauen und Mädchen als Menschenrechtsverletzung und als Zeichen der Ungleichstellung von Frauen und Männern. Seit Februar 2018 ist die Konvention in Deutschland geltendes Recht). Menschen, die professionell mit häuslicher Gewalt zu tun haben, müssen entsprechend geschult sein – das ist nicht immer der Fall. Dann sollten wir die Familien stärken, damit Kinder hier keine Gewalterfahrungen machen müssen, die sie später zu Tätern machen können. Dafür brauchen die Familien Unterstützung wie zum Beispiel durch das Netzwerk „Frühe Hilfen“, dass Familien in den ersten Lebensjahren des Kindes praktische Hilfen und Beratung bietet. Auch in den Kitas sollte schon Konfliktlösungskompetenz eingeübt werden. In den Schulen muss es natürlich weitergehen, wo Teenager etwa für das Thema Teen Dating Violence sensibilisiert werden sollten. Und natürlich sollte das Angebot von Frauen-, Männer- und Familienberatungsstellen weiter ausgebaut werden.
(TE, 26.07.2024)