Ein elfjähriges Mädchen ruft mitten in der Nacht bei der Polizei an. Es berichtet: Die Eltern streiten sich in der Küche und der Vater hat ein Messer in der Hand. Die Polizei soll kommen, denn sie bangt um das Leben ihrer Mutter und hat große Angst davor, dass der Vater sich sie als nächstes Opfer vornimmt.
Auch wenn sie nicht selbst geschlagen werden, sind Kinder oft Zeugen häuslicher Gewalt. Bei der Bewältigung dieser familiären Konflikte wird zu selten bedacht, welche Folgen die Erlebnisse für die Kinder haben können.
Kinder leiden mit
In Familien, in denen Gewalt als Mittel zur Lösung von Konflikten zum Alltag gehört, werden Kinder und Jugendliche in verschiedener Weise in Mitleidenschaft gezogen: Manchmal sind sie schon durch eine Vergewaltigung gezeugt worden oder es gab bereits während der Schwangerschaft Misshandlungen. In jedem Fall wachsen die Kinder in einer Atmosphäre der Gewalt und Demütigung auf und oftmals werden sie selbst Opfer von Handgreiflichkeiten oder anderen Formen der Kindeswohlgefährdung.
Dr. Claudia Bundschuh hat viele Jahre im Kinderschutz gearbeitet und ist heute als Professorin für die Pädagogik des Kinder- und Jugendalters im Fachbereich Sozialwesen an der Fachhochschule Niederrhein in Mönchengladbach tätig. Sie kennt solche Familien: „In der Vergangenheit war es mitunter so, dass sich die Polizei oder auch die Nachbarn, die etwas mitbekommen haben, nur um die Erwachsenen gekümmert haben, um die Situation zu entschärfen. Wie sich die anwesenden Kinder dabei fühlten, wurde außen vor gelassen. Man dachte: „Das hat ja mit denen nichts zu tun. Die sind ja nicht geschlagen worden.“ Hier muss sich das Bewusstsein ändern.
Denn ob es die Nachbarn oder die Polizisten sind, die eingreifen: Alle Erwachsenen sollten dafür sorgen, dass die Kinder bestmöglich vor weiterem Miterleben häuslicher Gewalt geschützt werden. Und sie benötigen auch Beratung, Begleitung und eventuell auch therapeutische Hilfe, um das, was sie erlebt haben, verarbeiten zu können.
Hohe Dunkelziffer
Jede vierte Gewalttat in Deutschland spielt sich im häuslichen Umfeld ab. Das belegt das „Bundeslagebild Häusliche Gewalt 2023“. In den meisten Fällen werden Frauen Opfer ihrer (Ex-)Partner. Meist geht es um vorsätzliche einfache Körperverletzung, Bedrohung, Stalking und Nötigung. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) geht davon aus, dass jährlich weltweit 275 Millionen Kinder partnerschaftlicher Gewalt ausgesetzt sind. Genaue Zahlen für Deutschland gibt es nicht. Claudia Bundschuh: „Generell kann man sagen: Es kommt wesentlich häufiger vor, als wir denken.“
Kinder können traumatisiert werden
Wenn die Kinder und Jugendlichen keine Hilfe erhalten, dann verarbeitet ihre Seele das auf ihre eigene Art und Weise, um sich zu schützen und um überleben zu können. Diese Erfahrung kann ihre Entwicklung ebenso schädigen als wenn sie selbst misshandelt worden wären. Die Reaktionen sind allerdings von Mensch zu Mensch sehr verschieden. Es können psychische Probleme, psychosomatische Erkrankungen oder Angstzustände entstehen. Sie können Hemmungen entwickeln, auf andere Menschen zuzugehen. Auch andere Langzeitfolgen können auftreten, erläutert Claudia Bundschuh: „Manche Kinder zeigen später Auffälligkeiten in ihrem Umgang mit anderen Menschen, weil sie mit einem falschen Bild aufwachsen, wie man offensichtlich Konflikte in einer Beziehung löst. Männer tun dies in ihrer Vorstellung dann durch Gewalttätigkeit und Frauen durch das Erdulden von Gewalt.“
Wenn Kinder keine Hilfestellung zur Bearbeitung der Erfahrungen erhalten, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie dann später ein ähnliches Verhalten zeigen. Es besteht die Gefahr, dass sich dieses Sozialverhalten von einer Generation zur nächsten weiterträgt. Bei Erhebungen in sieben deutschen Frauenhäusern im Jahr 2024 wurde festgestellt, dass bei 64 Prozent der Kinder Verhaltensprobleme in klinischem Umfang vorlagen. Etwa 30 bis 40 Prozent der betroffenen Kinder zeigten klinisch relevante psychische Probleme oder Auffälligkeiten. Ungefähr 20 bis 25 Prozent der Kinder entwickelten eine post-traumatische Belastungsstörung.
Nur „betreuter Umgang“ mit gewalttätigen Vätern
Bei Fällen häuslicher Gewalt gibt es auch Frauen als Täterinnen, doch in den meisten Fällen sind es Männer, die Frauen Gewalt antun. Mit der Beendigung der konkreten Bedrohungssituation ist es mit der Gefahr für die misshandelten Frauen jedoch noch nicht vorbei – und auch nicht mit der Belastung für die Kinder, weiß Claudia Bundschuh: „Die Gefahr für Frauen, die sich aus Gewaltbeziehungen trennen, wirklich schwerste Körperverletzungen zu erleiden, zum Teil mit Todesfolge, ist während der Trennung und kurz danach am größten.“ Die Kinder werden von den Vätern häufig als „Briefkästen“ benutzt, um Drohungen an die Mutter weiterzugeben. Deshalb plädiert sie in solchen familiären Situationen, in denen der Gewalttäter sich etwa noch nicht einem Anti-Aggressivitäts-Training unterzogen hat, für den „begleiteten Umgang“: „Es sollte immer jemand dabei sein, wenn der Vater das Kind oder die Kinder trifft.“ Außerdem sollten Kinder nicht zum Kontakt gezwungen werden. „Wenn sie es aber möchten, sollte mindestens diese Möglichkeit gegeben sein. Der Vater ist ja nicht nur böse. Er ist ja immer noch ihr Vater.“ Aber beim Umgang müsse gewährleistet sein, dass dieser für alle Beteiligten gut geschützt erfolgt.
Netzwerke leben vom Engagement Einzelner
Es gibt viele gute Beispiele dafür, wie Institutionen zum Schutz der Kinder und Jugendlichen, die Zeugen häuslicher Gewalt wurden, zusammenarbeiten. So haben sich im „Krefelder Netzwerk gegen Häusliche Gewalt“ verschiedene Institutionen zusammengeschlossen, darunter auch die Polizei. Sie wollen sich gerade im Hinblick auf den Schutz von Kindern und Jugendlichen bei Fällen häuslicher Gewalt künftig eng abstimmen. Das ist für Claudia Bundschuh aber nur der erste Schritt. Die Netzwerke müssen auch mit Leben erfüllt werden: „Ich merke immer wieder, dass das Funktionieren von solchen Netzwerken sehr personenabhängig ist. Sie leben von den Menschen, die in ihnen tätig sind. Wo ein Bewusstsein da ist, dass es hier einen Handlungsbedarf gibt, wo man sich persönlich kennt und den schnellen, kurzen Weg gehen kann und auch mal kurz durchklingeln kann, funktionieren sie wunderbar. An anderen Stellen, wo so etwas nur von oben vorgegeben wird, sind diese Kooperationen oft schwergängiger.“
Anfang 2024 ist zudem ein neues Soziales Entschädigungsrecht in Kraft getreten. Jetzt erhalten auch sogenannte „Sekundäropfer“ von Gewalttaten Hilfe – wie etwa Kinder und Jugendliche, die Zeuge regelmäßiger Gewalt in der Beziehung ihrer Eltern werden. So werden diesen Kindern und Jugendlichen als „schnelle Hilfe“ bis zu 18 Sitzungen vom Staat in einer Traumaambulanz bezahlt. Dafür müssen sich die Mütter an die Versorgungsämter in ihrem Bundesland wenden.
(WL, 27.06.2025)