Ob aus Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen, aufgrund von Erkrankungen oder als Folge von Altersarmut: Alkohol, Tabak und Medikamente können auch im höheren Lebensalter zu Missbrauch und Abhängigkeit sowie weiteren gesundheitlichen Schäden führen. Auch bei illegalen Drogen gibt es eine wachsende Gruppe von älteren Konsumierenden. PolizeiDeinPartner sprach mit Dr. med. Dieter Geyer, Ärztlicher Direktor der Johannesbad Fachklinik und Präsident der Deutschen Suchtmedizinischen Gesellschaft darüber, wie verbreitet Suchterkrankungen im Alter sind, was die häufigsten Risikofaktoren sind und welche präventiven Möglichkeiten es gibt.
Herr Dr. Geyer, wohin geht der aktuelle Trend beim Thema Alkohol-, Medikamenten- und Drogenabhängigkeit im Alter?
Suchterkrankungen im Alter nehmen zu, und das aus zwei Gründen. Einerseits gibt es als Folge der demografischen Entwicklung einfach mehr ältere Menschen in unserer Gesellschaft: Bis zum Jahr 2030 soll die Zahl der über 60-Jährigen um etwa 40 Prozent zunehmen. Andererseits rückt heutzutage eine Generation in die Altersgrenze vor, die mit wachsendem Wohlstand und steigendem Alkoholkonsum aufgewachsen ist. Wir reden hier insbesondere von Menschen ab den Jahrgang 1945. Sie haben in jungen Jahren einen ganz anderen Umgang mit Alkohol, aber auch mit Drogen gelernt und gepflegt als noch die Generation davor. Dadurch sind sie auch im höheren Alter deutlich konsumaffiner.
Welche Risikofaktoren gibt es – und welche Personengruppen sind besonders gefährdet?
Das Risiko, an einer Sucht zu erkranken, zieht sich grundsätzlich durch alle sozialen Schichten. Was Alkoholprobleme im Speziellen betrifft, unterscheidet man in der Gruppe der Älteren in der Theorie zwischen sogenannten „Late onset“ und „Early onset“-Trinkern. „Late onset“ bezeichnet diejenigen, die erst im höheren Alter ein Alkoholproblem entwickeln. Die weitaus meisten Betroffenen zählen zur Gruppe der „Early onset“. Bei ihnen besteht ein schädlicher Alkoholkonsum meist schon seit Jahrzehnten. Im realen Leben gibt es jedoch viele Mischgruppen – also Menschen, die in jungen Jahren einen riskanten Konsum entwickeln, diesen später in den Griff kriegen, im Alter aber wieder „rückfällig“ werden. Warum ältere Menschen ein Suchtproblem entwickeln oder wiederentwickeln, lässt sich ebenso wenig pauschal erklären wie bei Jüngeren. Zu den häufigsten Risikofaktoren zählen neben Einsamkeit und gesundheitlichen Beeinträchtigungen sicherlich finanzielle Belastungen, der Verlust des Partners, vermehrte Todesfälle im Freundeskreis, aber auch der Verlust von beruflichen Aufgaben und Anerkennung. In einer typischen Risikosituation, die noch häufig verkannt wird, befinden sich außerdem pflegende Angehörige – in den meisten Fällen Frauen. Man bedenke: Zwei Drittel aller pflegebedürftigen Menschen werden zu Hause betreut. Die Mehrheit der Pflegenden sind Töchter oder Schwiegertöchter, die selbst bereits ein höheres Alter zwischen 50 und 70 Jahre erreicht haben, und dann vielleicht auch noch weitere Verantwortung innerhalb der Familie übernehmen, indem sie zum Beispiel ihre Kinder bei der Enkelbetreuung unterstützen. Aus eigener Erfahrung weiß man vielleicht auch, dass die zu Pflegenden nicht immer dankbar dafür sind, dass sie gepflegt werden, obwohl die Angehörigen diese Aufgabe häufig aus einer hohen moralischen und ethischen Grundhaltung heraus übernehmen. Und dann greift man vielleicht schon mal vorschnell zum Beruhigungsmittel, um im Alltag weiter funktionieren zu können. Natürlich werden nicht alle, die eine Pflege übernehmen, suchtkrank oder medikamentenabhängig. Aber das ist eine typische Risikosituation. Hinzu kommt, dass der älter werdende Körper Medikamente und andere Suchtmittel deutlich schlechter verträgt bzw. viel länger braucht, um diese Substanzen abzubauen. Der Körper verträgt im Alter nicht mehr die gleiche Medikamentendosis oder Alkoholmenge wie in jungen Jahren.
Inwiefern hat die Corona-Pandemie diese Situation verschärft?
Corona hat die Risiken für einen problematischen Suchtmittelkonsum auf zwei unterschiedlichen Ebenen erhöht. Zum einen gilt das für Betroffene, die ihr Suchtproblem zwischenzeitlich im Griff hatten, aber aufgrund von Kontaktbeschränkungen rückfällig geworden sind – etwa, weil ihre wöchentliche Selbsthilfegruppe nicht mehr stattgefunden hat. Zum anderen leiden ältere Corona-Patientinnen und Patienten zunehmend unter den Folgen von Long-COVID. Sind diese Langzeitfolgen besonders gravierend, fangen nicht wenige von ihnen an, zu trinken. Grundsätzlich lässt sich aber gerade in Bezug auf Alkohol sagen: Wer vor Corona keinen problematischen Konsum hatte, hat während der Pandemie sogar eher weniger getrunken, weil die sozialen Gelegenheiten des Konsums weggefallen sind. Diejenigen, die aber vorher bereits eine Neigung dazu hatten, Alkohol oder andere Suchtmittel dazu einzusetzen, um sich besser zu fühlen oder um fitter zu sein, haben mehr konsumiert. Und diese Menschen sind in eine Risikosituation gekommen, weil dann auch die Kontrolle weggefallen ist, die vorher verhindert hat, dass sie abgeglitten sind.
Dr. med. Dieter Geyer, Ärztlicher Direktor der Johannesbad Fachklinik und Präsident der Deutschen Suchtmedizinischen Gesellschaft
© Johannesbad Medizin
Welche Rolle spielt das Thema Altersdepression sowohl als Ursache als auch Folge einer Suchterkrankung?
Das ist die Gretchenfrage. Nach mehr als 40 Berufsjahren kann ich sagen, die wissenschaftliche Einschätzung hierzu schwankt wie ein Pendel hin und her. Es gibt diejenigen, die zuerst depressiv sind und Medikamente, Alkohol oder Drogen in der Annahme einsetzen, es gehe ihnen dadurch besser. In anderen Fällen ist Alkohol der Auslöser der Depression: Die Alkoholmelancholie ist in der deutschen Psychiatrie schon über 150 Jahre bekannt. Für die Therapie ist entscheidend, anzuerkennen, dass man immer beides behandeln muss.
Welche präventiven Tipps helfen älteren Menschen dabei, nicht in eine Abhängigkeit abzurutschen?
Wichtig sind die Erkenntnis und Akzeptanz, dass im Alter sowohl die körperlichen als auch psychischen Kräfte nachlassen. Wenn der ganze Prozessor langsamer wird und schneller erschöpft ist, gilt das auch für die Leber. Was Alkohol betrifft, müssen gesunde Menschen nicht komplett abstinent leben. Der geringe und seltene Konsum ist hier aber ganz klar der adäquate Umgang. Das Thema Achtsamkeit spielt hier eine entscheidende Rolle. Wenn Medikamente zur Beruhigung verordnet werden, sollten diese immer nur vorübergehend eingenommen werden – am besten nie länger als zwei Wochen. Ein typisches Beispiel sind Schlafstörungen, die im Alter einfach häufiger auftreten. Statt diese sofort mit Medikamenten zu behandeln, sollte man in Kauf nehmen, dass man nachts weniger schläft, häufiger wach wird und tagsüber vielleicht öfter müde ist. Das ist ganz normal und geht den allermeisten älteren Menschen so. Wichtig ist deshalb, sich zwischendurch zu erholen – und das muss man einplanen. Man muss Trauerarbeit leisten können, dass sich das Leben verändert, wenn man älter wird. „Forever young“ funktioniert nicht.
An wen können sich Betroffene wenden – und wie können sie dabei von ihrem Umfeld unterstützt werden?
Die klassischen ersten Ansprechpartner sind der Hausarzt und die Suchtberatung. Der Hausarzt ist vor allem dann wichtig, wenn ein Alkoholentzug geplant ist. Dieser kann für ältere Menschen lebensgefährlich sein, wenn er nicht kontrolliert und überwacht wird. Auch Medikamente sollte man nie abrupt absetzen, sondern schrittweise ausschleichen. Andernfalls können akute Komplikationen auftreten.
Wer für professionelle Hilfe noch nicht bereit ist oder erstmal anonym bleiben möchte, kann sich einer Selbsthilfegruppe anschließen. Außerdem gibt es im Internet zahlreiche Beratungs- und Unterstützungsangebote, zum Beispiel beim Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (BIÖG). Auch Angehörige, die häufig mit der Situation überfordert sind, können sich hier informieren oder Rat holen. Im direkten Gespräch mit den Betroffenen ist es wichtig ist, dass sie ihnen nie direkt die Schuld geben oder mit erhobenem Zeigefinger auf sie zugehen. Stattdessen können sie versuchen, auf die Ebene der Verantwortung zu kommen. Nichts wirkt motivierender, als wenn zum Beispiel die Tochter zur Mutter sagt: „Du kannst nicht mehr auf dein Enkelkind aufpassen, weil du unter Alkohol schon dreimal die Herdplatte hast laufen lassen.“ Dann möchte die Mutter vielleicht noch nicht von heute auf morgen aufhören zu trinken, aber sie will den Kontakt zur Tochter und Enkeltochter nicht verlieren. Damit wäre ein wichtiger erster Schritt getan.
Unterstützungsangebote von BIÖG und DHS
Die Webseite der Kampagne „Alkohol? Kenn dein Limit.“ des Bundesinstituts für Öffentliche Gesundheit (BIÖG) informiert ältere Menschen, ihre Angehörigen sowie Fachkräfte zum Thema Alkoholkonsum im Alter. Daneben finden sich praktische Hinweise, wie der Alkoholkonsum reduziert werden kann und wo Betroffene Beratung und Hilfe finden können. Außerdem steht ein Faltblatt „Alkohol im Alter“ zum kostenlosen Download bereit. Darüber hinaus enthält die Webseite des BIÖG-Programms „Gesund & aktiv älter werden“ älteren Menschen nützliche Informationen zu weiteren Themen wie Altersdepression oder einem verantwortungsvollen Umgang mit Medikamenten.
Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) e. V. bietet eine kostenlose Broschüre „Suchtprobleme im Alter“ an. Darüber hinaus gibt es Informationen und Hilfen für ältere Menschen zu den verschiedenen Suchtstoffen Alkohol, Medikamente und Tabak. Hilfsangebote vor Ort finden Betroffene und ihre Angehörigen über das Suchthilfeverzeichnis der DHS. Das Serviceangebot verzeichnet Informationen zu über 1.800 Einrichtungen der Suchthilfe.
KF (Stand 15.04.2025)