Abhängig machen vor allem Schlaf-, Beruhigungs- und Schmerzmittel
Abhängig machen vor allem Schlaf-, Beruhigungs- und Schmerzmittel

Besonders Frauen und ältere Menschen sind betroffen

Wenn Medikamente abhängig machen

In Deutschland gibt es fast zwei Millionen Medikamentenabhängige, darunter vor allem Frauen und ältere Menschen. Ärztinnen und Ärzte sowie Apotheker können erheblich dazu beitragen, dass eine Medikamentabhängigkeit frühzeitig erkannt und behandelt wird. Auch das nähere Umfeld sollte aufmerksam sein.

Prof. Norbert Wodarz leitet das Zentrum für Suchtmedizin in Regensburg

© Matthias Eckel/medbo

„Immer wieder erleben wir, dass Patienten sich nach einem Medikamentenentzug wie in einem völlig neuen Leben fühlen. Wenn sie aus dem Fenster schauen, sehen sie zum Beispiel, dass draußen etwas Schnee liegt und die Sonne scheint. Solche Dinge haben sie vorher unter Medikamenteneinfluss gar nicht mehr richtig wahrgenommen“, erläutert Prof. Dr. med. Norbert Wodarz, der seit rund 20 Jahren das Zentrum für Suchtmedizin an der Psychiatrischen Uniklinik in Regensburg leitet. Bis zu 1,9 Millionen Erwachsene in Deutschland leiden laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) unter Medikamentenabhängigkeit. Besonders betroffen sind Frauen und ältere Menschen. „Frauen machen ungefähr zwei Drittel der Betroffenen aus. Bei allen anderen Abhängigkeiten ist es eher umgekehrt. Da sind die Männer häufiger betroffen“, weiß Wodarz. Die Anzahl der medikamentenabhängigen Frauen steigt mit zunehmendem Alter.

Unterschiedliche Ursachen bei jüngeren und älteren Menschen

Greifen jüngere Frauen zu Beruhigungstabletten, sind vor allem Schlafstörungen, Ängste, Überforderung, Unruhe und Nervosität die Ursachen. Im höheren Alter treten oft typische Umstellsituationen auf, die eine Medikamentenabhängigkeit auslösen können. „Obwohl sich zum Beispiel viele auf ihre Rente freuen, kommen sie mit dieser Lebensumstellung nicht klar. Was mache ich jetzt mit mir und meinem Leben? Das ist manchmal für ältere Menschen eine ganz existenzielle Frage, auf die sie sich in ihrem Leben nicht wirklich vorbereitet haben“, so Wodarz. Einige können auch ihren Alltagsaktivitäten nicht mehr nachgehen, weil ihre Mobilität eingeschränkt ist. „Die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit lässt nach. Man fühlt sich nicht mehr gebraucht, ist vielleicht zunehmend allein und beschätigt sich umso mehr mit seinen gesundheitlichen Einschränkungen“, erläutert der Chefarzt des Regensburger Zentrums für Suchtmedizin. Auch wenn ein nahestehender Mensch gestorben oder erkrankt ist, kann das nicht jeder gut verarbeiten. „Manche nehmen dann Medikamente, bevor sie nächtelang wach sind und grübeln, wie es weitergehen soll“, sagt Norbert Wodarz. „Wenn man diese Medikamente dann aber regelmäßig weiternimmt, empfindet man auch vom Rest des Lebens nicht mehr so viel“, warnt der Mediziner.

4K-Regel:

  • klare Indikation
  • korrekte Dosierung
  • kurze Anwendung
  • kein abruptes Absetzen

4K-Regel

Abhängig machen vor allem Benzodiazepine (rezeptpflichtige Beruhigungs- und Schlafmittel) und Opioide (Schmerzmittel). „Das sind auch die beiden Hauptgruppen, die wir in der Psychiatrischen Uniklinik in Regensburg am häufigsten behandeln“, so Wodarz. Ärztinnen und Ärzte tragen bei diesen Mitteln eine besondere Verantwortung. Ihre Anwendung sollte der „4K-Regel“ folgen: Klare Indikation, kleinste notwendige Dosis, kurze Anwendung und kein abruptes Absetzen. Mediziner sollten vor allem auf Auffälligkeiten achten: Geben Patienten zum Beispiel häufiger an, dass sie ihr Rezept verloren haben? Oder waren sie längere Zeit nicht in der Praxis? Das könnte ein Indiz dafür sein, dass sie sich schon vorher bei anderen Ärzten Rezepte besorgt haben (sogenanntes Doktor-Hopping). Norbert Wodarz empfiehlt außerdem, dass Medikamente wie Benzodiazepine nicht auf Privatrezept verordnet werden. Das sei häufig schon ein Warnsignal, dass Ärzte sich bei der Verordnung auf Kassenrezept unwohl fühlen.

Aptheker sollten frühzeitig auf mögliche Medikamentenabhängigkeit hinweisen

Wie erkennt man eine Medikamentenabhängigkeit?

  • Körperliche Symptome: Menschen geraten schnell ins Schwitzen, wirken schläfrig und fallen öfter hin. Nicht selten passieren dadurch Unfälle. Auch Übelkeit und Gewichtsverlust sind typische Anzeichen.
  • Verhalten: Betroffene ziehen sich immer mehr zurück und kaufen immer häufiger Medikamente. Diese lassen sie sich von verschiedenen Ärzten verschreiben oder kaufen sie in mehreren Apotheken, um nicht aufzufallen.
  • Weitere psychische Symptome: Die Abhängigkeit zeigt sich zum Beispiel in einer allgemeinen ängstlichen Unruhe und Anspannung, dem Verlust an früher vorhandenen Interessen und an ungewöhnlich starken Stimmungsschwankungen bis hin zur Gleichgültigkeit.
  • Auffällig wird die Abhängigkeit oft erst, wenn das Medikament plötzlich abgesetzt wird, weil man es vergessen hat, in den Urlaub mitzunehmen oder weil man aus einem anderen Grund ins Krankenhaus muss. Dann treten Entzugserscheinungen auf.

Auch die Apotheken sind gefordert, besonders auf abhängig machende Medikamente aufmerksam zu machen. „Wenn Apotheker feststellen, dass jemand schon die vierte oder fünfte Woche ein Medikament nimmt, sollten sie auf das immer größer werdende Risiko hinweisen“, betont der Professor. Natürlich sollten auch Patienten auf mögliche Nebenwirkungen achten. „Wenn sie zum Beispiel Schlafmittel nehmen und auch tagsüber davon sehr müde sind. Wenn sie unter der Wirkung der Medikamente hinfallen. Oder wenn sie immer mehr von dem Medikament benötigen, um noch die gleiche Wirkung zu erzielen. Das sind Dinge, die einem selber auffallen könnten. Das tun sie aber oft nicht“, gibt Wodarz zu bedenken. „Da braucht es in der Regel einen Anstoß von außen, etwa von nahestehenden Angehörigen, dem Arzt oder der Ärztin.“

Gemeinsam Wege finden und Ursachen bekämpfen

Die Arzneimittelabhängigkeit kann nur in einer gemeinsamen Anstrengung aller Beteiligten – Ärzte, Apotheker und Patienten – bekämpft werden: Ärztinnen und Ärzte müssen sich beim Verschreiben von Medikamenten mit Suchtpotenzial an der „4K-Regel“ orientieren. Apotheker müssen bei der Abgabe dieser Medikamente ihrer Beratungspflicht nachkommen. Die Patienten schließlich sollten ihren Medikamentenkonsum selbstkritisch im Blick behalten und im Zweifelsfall Hilfs- und Beratungsangebote wahrnehmen. Der erste wichtige Schritt aus der Abhängigkeit ist der Entzug. Anschließend sollten die Ursachen behandeln werden – und zwar ohne die Medikamente, die zur Abhängigkeit geführt haben. „Egal ob es um die Wirbelsäule, um Schlafstörungen oder mangelhafte Stressverarbeitung geht, wichtig sind entsprechende Behandlungsangebote. Denn nur so kann man verhindern, dass es wieder von vorne losgeht“, so Wodarz. SB (13.04.2021)

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