In der Notaufnahme einer Berliner Klinik prügeln drei Brüder in der Silvesternacht 2024 einen Arzt und einen Pfleger zu Boden. Der Grund: Der Älteste der Geschwister habe zu lange auf seine Behandlung warten müssen. Ein alkoholisierter 63-Jähriger gerät im Mai 2024 in Weiden (Oberpfalz) in Rage und bedroht einen Arzt, als dieser ihn behandeln will. Eine Streife der Polizeiinspektion rückt an und nimmt den Mann in Gewahrsam. Eine Messerattacke auf einen niedergelassenen Arzt in Wasserburg im April 2024 endet tödlich. Der Täter, ein ehemaliger Patient, war psychisch krank und handelte im Wahn. Beschimpfungen, Beleidigungen und körperliche Gewalt gehören für Ärztinnen und Ärzte mehr und mehr zum Alltag. PolizeiDeinPartner sprach mit Dr. med. Johannes Albert Gehle, Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe (ÄKWL) und Vorstandsmitglied der Bundesärztekammer, über die Ursachen, Formen und Folgen der zunehmenden Gewalt.
Herr. Dr. Gehle, Kliniken und Notaufnahmen, aber auch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte beklagen immer mehr Gewalt in ihren Praxen. Was sind Ihrer Ansicht nach die häufigsten Ursachen?
Zum einen hat sich die Gesellschaft allgemein verändert. Die Menschen sind grundsätzlich konfliktbereiter, aber eben auch gewaltbereiter geworden – oder wie man auch sagt: Die Zündschnur ist kürzer geworden. Das fängt schon bei Kleinigkeiten im Alltag an, etwa bei Pöbeleien im Straßenverkehr. Zum anderen sind die Erwartungshaltung und der Egoismus der Menschen gestiegen, wenn sie eine Arztpraxis oder ein Krankenhaus aufsuchen. Patienten, die einen Termin haben, sehen sich mehr und mehr als Kunden, die in vollem Umfang bedient werden wollen – frei nach dem Motto ‚Hier bin ich, es geht nur um mich‘. Kommt es allerdings trotz Termin zu Wartezeiten, ein Notfall wird vorgezogen oder jemand ist mit seiner Behandlung unzufrieden, kennen viele keine Benimmregeln mehr und reagieren respektlos. Dazu hat unter anderem auch Corona beigetragen. Die Menschen werden deutlich schneller aggressiv. Angespannte Situationen schaukeln sich hoch und entladen sich in verbalen und körperlichen Angriffen. Hinzu kommt ein wachsendes Misstrauen gegenüber ärztlichem Personal. Patienten kommen heutzutage sehr vorinformiert in die Behandlungssituation hinein und agieren häufig mit einem Halbwissen. Und wenn dann ihr Gegenüber dieses Wissen nicht spiegelt oder nicht bestätigt, werden sie ausfallend.
Welche Arten von Gewalt lassen sich unterscheiden?
Die Bandbreite ist groß. Drohungen, Beschimpfungen und Beleidigungen kommen am häufigsten vor. Hinzu kommen immer wieder Patienten, die Klinikzimmer verwüsten oder das Mobiliar zerstören. Türen werden eingetreten oder Feuerlöscher heruntergerissen. Die gravierendste Form der Gewalt sind direkte Tätlichkeiten wie Schläge, Tritte, Würgegriffe oder Messerattacken. Im Frühjahr 2024 haben wir eine Umfrage unter den circa 42.500 im elektronischen Mitgliederportal der Ärztekammer Westfalen-Lippe gemeldeten Ärztinnen und Ärzten im Kammergebiet durchgeführt und innerhalb weniger Tage mehr als 4.500 Rückmeldungen erhalten. Mehr als 1.000 von ihnen haben Erfahrungen mit körperlicher Gewalt gemacht. Erschreckend ist auch, dass die Gewalt ja in vielen Fällen nicht an der Praxis- oder Kliniktür endet. Kolleginnen und Kollegen berichten immer wieder über Drohanrufe, Anfeindungen über Briefe, SMS, Social Media oder E-Mail. Erst vor kurzem wurde einer Pflegekraft aus unserer Klinik auf dem Nachhauseweg aufgelauert. Sie wurde von einer unbekannten Person angesprochen und bedroht, sie solle bloß aufpassen, sonst könne ihr etwas passieren. Solche Situationen sind leider keine Seltenheit.
Welche Folgen haben solche Erfahrungen für betroffene Ärztinnen und Ärzte, aber auch für anderes medizinisches Personal?
Das Thema belastet die Kolleginnen und Kollegen sowie auch deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter massiv: Empfangskräfte, Krankenschwestern und Medizinische Fachangestellte. Die Erfahrungen mit erlebter Gewalt können unter anderem zu Gereiztheit und Abstumpfung führen. Viele Betroffene verlieren dauerhaft die Freude an ihrem Beruf. Im schlimmsten Fall enden die Gewalterfahrungen in einem Burnout. Außerdem muss man bedenken, dass in vielen Fällen auch andere Patienten mitbetroffen sind und sich bedroht fühlen, wenn jemand in der Praxis aggressiv wird. Das kann so weit gehen, dass Patienten sich aus Angst nicht weiter behandeln lassen wollen, aus der Praxis verschwinden, Termine abbrechen oder sogar die ganze Therapie beenden.
In welchen Situationen ist es notwendig, die Polizei zu verständigen und gegebenenfalls Anzeige zu erstatten?
Das ist in jedem Fall dann notwendig, sobald wir behindert werden, andere Menschen zu behandeln. Das heißt, wenn jemand gewalttätig durch eine Praxis läuft und dadurch andere Patienten verunsichert werden oder ihre Behandlung abbrechen, ist es zwingend erforderlich, Ordnungskräfte hinzuzurufen. Wenn diesen Menschen klar wird, dass ihnen eine Strafverfolgung oder zumindest eine Anzeige droht, beruhigt das in vielen Fällen schon die Situation. Ich kann mich außerdem an einen Patienten erinnern, der Drogen konsumiert und zwei Krankenschwestern mit Mord gedroht hat. In einem solchen Fall, wenn es zu einer ernsten Gefahr für Leib und Leben kommen kann, haben wir keine andere Wahl, als unmittelbar die Polizei zu verständigen. Schwieriger fällt die Entscheidung, wenn jemand in einer psychischen Ausnahmesituation ist und eigentlich dringend anderweitig Hilfe benötigt. Ich glaube jedoch schon, dass die meisten Kolleginnen und Kollegen abwägen können, wann eine Situation eskaliert und es besser ist, Unterstützung zu holen.
Die Ärztekammer Westfalen-Lippe (ÄKWL) hat im Mai 2024 eine Umfrage unter ihren Mitgliedern zu Erfahrungen mit Gewalt durchgeführt. Von insgesamt 4.513 Rückmeldungen haben 2.917 Kammerangehörige auf die Frage „Haben Sie in der Vergangenheit in ihrem ärztlichen Alltag Gewalt erfahren müssen?“ mit „ja“ geantwortet. Dabei handelte es sich in 2.676 Fällen um verbale Gewalt, in 1.015 Fällen auch um körperliche Gewalt. 1.354 Fälle ereigneten sich im stationären Bereich, 1.339 im ambulanten Bereich und 254 im Rettungsdienst.
Was müsste sich ändern, um Ärzte und Klinikpersonal besser schützen zu können? Gibt es Forderungen Ihrer Ärztekammer?
Die Bundesregierung strebt zwar eine Verschärfung des Strafrechts bei Angriffen auf Rettungskräfte, Feuerwehr und in Notaufnahmen an. Die meisten Gefahrenmomente entstehen jedoch stationär und ambulant. Deshalb sollten dringend auch betroffene Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeuten und Praxismitarbeitende in Paragraf 115 StGB aufgenommen werden, der solche Angriffe sanktioniert. Unsere Ärztekammer fordert außerdem ein flächendeckendes Meldesystem, in dem Fälle von verbaler und körperlicher Gewalt im Gesundheitswesen konsequent angezeigt werden. Letztendlich geht es uns auch darum, ein Stück weit Prävention zu tätigen und das Bewusstsein der Bevölkerung zu sensibilisieren. Die Menschen müssen sich darüber im Klaren sein, dass ein Behandlungsraum, egal ob in der Klinik oder bei einem niedergelassenen Arzt, ein rechtlich gleich geschützter Raum ist wie zum Beispiel eine Polizeidienststelle. Und sie unmittelbar einer Strafverfolgung gegenüberstehen, wenn sie dort jemanden bedrohen, körperlich angreifen oder verletzen. Uns geht es nicht darum, Menschen, die eine psychische Störungen haben oder unter Druck vielleicht einmal falsch reagieren, in eine Strafsituation zu bringen. Das können Ärztinnen und Ärzte trennen. Uns geht es darum, dass in ernsthaft gefährlichen Situationen ein Strafprozess in Gang gesetzt wird. Die Angst, dass am Ende die Falschen angeklagt werden, muss man nicht haben.
KF (29.11.2024)