Die lange Wartezeit bis zum Prozess kann ohne Therapie ernste Folgen für Opfer haben
Die lange Wartezeit bis zum Prozess kann ohne Therapie ernste Folgen für Opfer haben

Gewaltopfer im Konflikt

Zwischen Trauma und Justiz

Opfer einer Straftat zu werden, führt zu psychischer Belastung. Wer sexualisierte Gewalt erlebt hat, kann sogar eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln. Eine möglichst zeitnahe Behandlung ist daher ratsam. Manche Gerichte empfehlen jedoch aus prozesstaktischen Gründen, mit der Therapie zu warten, bis das Verfahren abgeschlossen ist. PolizeiDeinPartner hat mit der Psychotherapeutin und Autorin Dr. Sabine Ahrens-Eipper über dieses Dilemma und die schwerwiegenden Folgen für Opfer gesprochen.

Der innere Konflikt von Gewaltopfern

Für Opfer von Gewalt – sei es sexualisierte, häusliche oder physische Gewalt – ist der Weg zur Heilung lang und voll innerer Konflikte, die auf diesem Weg verarbeitet werden.

Doch dürfen Betroffene bereits vor dem Gerichtsprozess mit einer eine Traumatherapie beginnen? Tatsächlich zögern viele Opfer, zeitnah psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Der Grund: Sie haben Angst, dass ihre Aussagen vor Gericht dadurch weniger glaubwürdig wären. Das ist ein fataler Teufelskreis, den auch die Psychotherapeutin Dr. Sabine Ahrens-Eipper aus ihrer Praxis kennt: „Ich würde schätzen, dass ein Drittel bis die Hälfte der Betroffenen – unter anderem von Anwälten oder Opferhilfeeinrichtungen – den Ratschlag bekommen, mit der Therapie besser bis nach der Gerichtsverhandlung zu warten.“ Die Befürchtung: Die Verteidigung könnte argumentieren, dass Erinnerungen durch therapeutische Interventionen „verändert“ oder „beeinflusst“ wurden – ein Vorwurf, der die Glaubwürdigkeit des Opfers massiv untergraben kann. In manchen Fällen – vor allem bei sexualisierter Gewalt – wird von der Verteidigung das Konzept der „False Memory“ im Prozess herangezogen. Dabei wird behauptet, das Opfer habe sich unter therapeutischem Einfluss Erinnerungen eingeredet oder rekonstruiert, die so nicht stattgefunden hätten. Auch wenn diese Theorie wissenschaftlich umstritten ist, wird sie in Gerichtsverfahren vereinzelt als Strategie genutzt. Dabei sei diese Sorge in den allermeisten Fällen unbegründet, betont Ahrens-Eipper: „Leitliniengemäße Psychotherapie schädigt eine Aussage in der Regel nicht.“ Vielmehr handele es sich um ein anhaltendes Vorurteil: „Es gibt keine wissenschaftlichen Belege, dass durch Therapie Aussagen verfälscht werden. Dass Therapie Erinnerungen manipuliert, ist ein hartnäckiges Gerücht.“

Wenn Hilfe ausbleibt

Aus psychologischer Sicht ist das Abwarten fatal: Betroffene sollen über Monate oder gar Jahre mit ihren Symptomen leben – darunter Flashbacks, Schlafstörungen, Angstzuständen und Depressionen –, ohne professionelle Hilfe in Anspruch nehmen zu dürfen – aus Angst, dass ihnen dies später im Prozess zum Verhängnis wird. Gerade bei Kindern und Jugendlichen kann die lange Wartezeit bis zum Prozess gravierende Folgen haben – nicht nur juristisch, sondern auch gesundheitlich. Vor allem eine unbehandelte posttraumatische Belastungsstörung sei eine ernste Angelegenheit: „Die Betroffenen können nicht schlafen, haben Albträume, sehen das Ereignis immer wieder vor sich“, so Ahrens-Eipper.

„Damit sollte niemand auch nur einen Tag länger herumlaufen müssen als zwingend notwendig.“ Wenn sich Betroffene zwischen einer Anzeige und Therapie entscheiden müssen, sei das ein ethisches Dilemma, das nicht nur den Einzelnen trifft, sondern auch die Gesellschaft. Denn manche Betroffene entscheiden sich tatsächlich gegen eine Anzeige, nur um eine Therapie machen zu können. Der Täter oder die Täterin landet in diesen Fällen also gar nicht erst vor Gericht. „Es gibt durchaus auch Familien, die sagen: Hauptsache mein Kind wird gesund, dann lassen wir das mal mit der Anzeige.“ Entscheiden sich Opfer allerdings gegen eine Therapie und für eine Anzeige, wird ihnen ihr Grundrecht auf körperliche und seelische Unversehrtheit verwehrt. Sie verzichten damit auf dringend nötige Hilfe und ihre Gesundheit verschlechtert sich womöglich dauerhaft.  „Wie man es nimmt – die Folgen sind unzumutbar oder sogar fatal“, meint die Therapeutin.

Ein Erstgespräch beim Therapeuten beeinflusst die Erinnerung nicht

Ein Erstgespräch beim Therapeuten beeinflusst die Erinnerung nicht

Катерина Євтехова / stock.adobe.com

Wege aus dem Dilemma

Der Konflikt offenbart ein tiefes strukturelles Problem: Opfer werden im Strafprozess oft primär als Zeuginnen und Zeugen angesehen – nicht als verletzte, leidende Menschen mit einem akuten Hilfebedarf. Die Priorität liegt auf der Sicherung eines verwertbaren Beweismittels, nicht auf der Wiederherstellung psychischer Gesundheit. Das Strafverfahren, das eigentlich Gerechtigkeit bringen soll, wird so selbst zur Belastung – oder gar zur Retraumatisierung.

Es braucht daher ein Umdenken in Justiz, Therapie und Gesellschaft. Lösungsansätze gibt es bereits – etwa sogenannte Frühbefragungen, bei denen die Aussagen zeitnah nach der Tat professionell dokumentiert werden und später im Prozess als Beweismittel dienen können. Das sogenannte „Würzburger Vernehmungsmodell“ sei ein erster Ansatz zur frühen, möglichst schonenden und gerichtstauglichen Vernehmung von Betroffenen, insbesondere bei sexualisierter Gewalt – oft bei Kindern, aber zunehmend auch bei Erwachsenen. „Wenn Aussagen sehr früh aufgenommen und konserviert werden, sind die Erinnerungen an das Geschehene noch ganz frisch und können nicht nachträglich verfälscht werden“, so Dr. Ahrens-Eipper. „Das kann auch die Strafverfolgung verbessern. Bislang handelt es sich dabei jedoch noch um ein Pilotprojekt.“ Auch die Rolle von psychologischen Sachverständigen werde oft unterschätzt. Sie könnten immer dann eingeschaltet werden, wenn Zweifel an der Glaubhaftigkeit durch therapeutische Gespräche entstehen und professionell beurteilen, ob die Aussage noch verwertbar ist. „Diese Sachverständigen können sehr gut differenzieren, ob eine Beeinflussung stattgefunden hat.“ Betroffenen und ihren Familien rät die Expertin in jedem Fall zu einem diagnostischen Erstgespräch bzw. zu einer sogenannten psychotherapeutischen Sprechstunde. Ziel ist es, abzuklären, ob eine Therapie überhaupt notwendig ist. „Ein Erstgespräch beim Therapeuten beeinflusst die Erinnerung nicht – im Gegenteil, es hilft zu klären, ob Hilfe nötig ist.“ Bei gesundheitlichen Problemen oder Erkrankungen sollte schnell gehandelt werden: „Die eigene psychische Gesundheit sollte immer Vorrang haben. Wenn Beschwerden da sind, sollten sich Betroffene immer therapeutischen Rat holen – und zwar so früh wie möglich.“

KF (25.07.2025)

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